Der Beschluss des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 6. Mai 2024 (OAus 110/24) behandelt die Unzulässigkeit der Auslieferung eines ukrainischen Staatsangehörigen an die Republik Polen zur Strafvollstreckung. Der Beschluss stützt sich auf den Europäischen Haftbefehl, der vom polnischen Bezirksgericht Wrocław ausgestellt wurde und auf ein Urteil des Amtsgerichts Wrocław-Śródmieście zurückgeht. Die ursprüngliche Verurteilung betraf eine Bewährungsstrafe von einem Jahr, deren Reststrafe nach Widerruf der Bewährung elf Monate und 29 Tage beträgt.
Der wesentliche Grund für die Erklärung der Unzulässigkeit der Auslieferung liegt in der Tatsache, dass der Verfolgte zu der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung führte, nicht persönlich erschienen ist und auch nicht persönlich zu dieser geladen wurde. Das polnische Gericht hatte die Ladung an eine vom Verfolgten im Ermittlungsverfahren angegebene Adresse geschickt, die der Verfolgte jedoch weder erhalten noch abgeholt hat. Laut polnischem Recht gilt diese Zustellung zwar als bewirkt, jedoch entspricht dies nicht der im § 83 Abs. 1 Nr. 3 des deutschen Internationalen Rechtshilfegesetzes (IRG) geforderten persönlichen Inkenntnissetzung des Verfolgten von dem Verhandlungstermin.
Das Oberlandesgericht Dresden hat somit auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft entschieden, die Auslieferung für unzulässig zu erklären und den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben, da keine der in § 83 Abs. 2 bis 4 IRG aufgeführten Ausnahmen vorliegt. Es fehlen zudem Anhaltspunkte für das Vorliegen einer der Ausnahmetatbestände, die eine Zustellung des Urteils oder eine Rechtsmittelbelehrung beinhalten würden, sowie eine ausdrückliche Zusicherung nach § 83 Abs. 4 IRG. Die Entscheidung stellt klar, dass die tatsächliche Kenntnis des Verfolgten von dem Verhandlungstermin und -ort zwingend erforderlich ist, um die Auslieferung zur Strafvollstreckung zu ermöglichen.
Aus den Entscheidungsgründen:
„BESCHLUSS
In der Auslieferungssache des ukrainischen Staatsangehörigen
[…]
Pflichtbeistand: Rechtsanwalt Stephan M. Höhne, Wallstraße 15, 02625 Bautzen
wegen Auslieferung an die Republik Polen zur Strafvollstreckung
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Dresden am 06.05.2024
beschlossen:
1. Die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zum Zwecke der Strafvollstreckung auf der Grundlage des im Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Wrocław vom 29. Februar 2024 […] genannten Haftbefehls des Amtsgerichts Wrocław-Śródmieście vom 27. September 2021 […] wird für unzulässig erklärt.
2. Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 23. April 2024 wird aufgehoben.
Gründe
I.
Der Senat hat am 23. April 2024 auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls des polnischen Bezirksgerichts Wrocław vom 29. Februar 2024 […] einen Auslieferungshaftbefehl gegen den Verfolgten, der sich derzeit in anderer Sache in Haft befindet, erlassen. Der Europäische Haftbefehl beruht auf dem Urteil des Amtsgerichts Wrocław-Śródmieście vom 27. September 2021 […], mit dem der Verfolgte zunächst zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt worden war, die nach Bewährungswiderruf durch Entscheidung des Amtsgerichts Wrocław-Śródmieście vom 23. November 2022 […] noch in Höhe von elf Monaten und 29 Tagen zu verbüßen ist.
Auf die Nachfrage der Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat das Bezirksgericht Wrocław mit Schreiben vom 26. April 2024, eingegangen bei der Generalstaatsanwaltschaft am 29. April 2024, mitgeteilt, dass keine persönliche Ladung des Verfolgten zu der Verhandlung erfolgt sei. Vielmehr sei die Ladung an eine von dem Verfolgten im Ermittlungsverfahren angegebene Anschrift versandt worden. Die Benachrichtigung vom Termin sei von dem Verfolgten weder empfangen noch abgeholt worden, sondern zu den Akten zurückgelangt. Die Zustellung sei nach polnischem Recht als bewirkt anzusehen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuschrift vom 30. April 2024 beantragt, die Auslieferung für unzulässig zu erklären und den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben.
Die Auslieferung des Verfolgten erweist sich nach der nunmehr eingegangenen Auskunft der polnischen Behörden als unzulässig.
Nach § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG ist die Auslieferung im Auslieferungsverkehr mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union unzulässig, wenn der Verfolgte bei einer Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung zu der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht persönlich erschienen ist und auch keiner der Ausnahmetatbestände des § 83 Abs. 2 bis 4 IRG verwirklicht ist. Das ist vorliegend der Fall.
Der Verfolgte war bei der Verhandlung vor dem Amtsgericht Wrocław-Śródmieście am 21. September 2021 nicht anwesend.
Ein Ausnahmetatbestand nach § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG ist nicht gegeben. Nach der nunmehr vorliegenden Antwort ist der Verfolgte nicht persönlich geladen worden und hatte auch sonst nicht zweifelsfrei auf offiziellem Weg Kenntnis von dem Verhandlungstermin. Die nach polnischem Recht zulässige Zustellfiktion steht jedoch der vorausgesetzten tatsächlichen Inkenntnissetzung des Verfolgten von dem vorgesehenen Ort und Termin der Verhandlung nicht gleich (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Mai 2016- C-108/16 PPU; OLG Brandenburg, Beschluss vom 5. Februar 2020 – 1 AR 29/19, Rn. 10; KG, Beschluss vom 27. Juli 2017 – (4) 151 AuslA 87/17 (101/17), Rn. 9, jeweils juris).
Für das Vorliegen eines der Ausnahmetatbestände im Sinne des § 83 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 3 IRG bestehen keine Anhaltspunkte. Eine Rechtsmittelbelehrung und Zustellung des Urteils liegen nicht vor. Damit scheidet auch ein Fall des § 83 Abs. 3 IRG aus. Eine Zusicherung nach § 83 Abs. 4 IRG wurde ausdrücklich mit der Antwort vom 26. April 2024 nicht abgegeben.
II.
Da die Auslieferung unzulässig ist, ist der Auslieferungshaftbefehl aufzuheben (§ 15 Abs. 2 IRG).“
OLG Dresden, Beschluss vom 6.5.2024 – OAus 110/24
Beitragsbild: fiktives, mit DALL·E 3 erstelltes Bild