Anscheinsbeweis bei Missachtung eines Stopp-Schilds

Durch das Amtsgericht Pirna (AG Pirna, Urteil vom 14.11.2013 – 13 C 848/11) wurde entschieden, dass für einen Unfallbeteiligten der Anschein einer schuldhafter Vorfahrtsverletzung spricht, wenn er ein Stopp-Schild missachtet  und es infolge zu einem Verkehrsunfall kommt. Zudem sind Vorhaltekosten einem gewerblich genutzten Fahrzeug sowie die Kosten für eine Akteneinsicht grundsätzlich erstattungsfähig.

Auszug aus der Gerichtsentscheidung:

IM NAMEN DES VOLKES
ENDURTEIL

In dem Rechtsstreit

[…]

– Kläger –

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Frings & Höhne, Wallstraße 15, 02625 Bautzen, Gz.: […]

gegen

1. […]

– Beklagter –

2. […]

– Beklagte –

3. […]

– Beklagte –

Prozessbevollmächtigte zu 1 – 3:

[…]

wegen Schadensersatz
 

hat das Amtsgericht Pirna […] im schriftlichen Verfahren […]

für Recht erkannt:

1. Der Beklagte zu 1. wird verurteilt, an den Kläger EUR 4.156,39 nebst Zinsen p. a. in Höhe von 4 Prozent aus EUR 6.800,58 für die Zeit vom 17.12.2010 bis zum 09.05.2011 sowie weitere Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB p. a. aus EUR 4.156,39 seit dem 10.05.2011 zu zahlen.

2. Der Beklagte zu 1. wird darüber hinaus verurteilt, an den Kläger EUR 12,00 nebst Zinsen p. a. in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 20.08.2011 zu zahlen.

3. Von den Gerichtskosten tragen der Kläger 2/3 und der Beklagte zu 1. 1/3. Von den außergerichtlichen Kosten tragen der Kläger 2/3 der eigenen sowie die den Beklagten zu 2. u. 3. jeweils entstandenen außergerichtlichen Kosten in voller Höhe, der Beklagte zu 1. seine eigenen in voller Höhe sowie 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Klägers.

4. Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar. Das Urteil ist für die Beklagten zu 2. u. 3. vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten zu 2. u. 3. jeweils vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand:

Der Kläger erhebt weitergehende Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall.

Der klägerische Zeuge […] Z[…] fuhr mit einem klägerischen Lkw Daimler Crysler Sprinter 313 CDI am 16.12.2010 gegen 12.45 Uhr auf der bevorrechtigten Dorfstraße in Ulbersdorf bergauf in Richtung Lichtenhain. Von rechts näherte sich auf der untergeordneten Neudorfstraße der Erstbeklagte mit einem Schaufellader (Radlader). Halter dieser selbstfahrenden Arbeitsmaschine ist die Zweitbeklagte, haftpflichtversichert ist der Radlader bei der Drittbeklagten. Im Kreuzungsbereich kam es zur Kollision zwischen dem Mercedes Transporter bzw. dem Radlader, wobei der nähere Unfallhergang streitig blieb. Zum Unfallzeitpunkt herrschten winterliche Straßenverhältnisse. Die Drittbeklagte hat vorgerichtlich lediglich anteilige Schadenersatzzahlungen an den Kläger geleistet. Vorliegend verlangt der Kläger die volle Übernahme seines Sachschadens.

Der Kläger trägt vor allem vor, dass der klägerische Zeuge mit einer den winterlichen Witterungsverhältnissen angepassten Geschwindigkeit, welche zugleich geeignet gewesen sei, die glatte Straße bergauf zu kommen, gefahren sei, ohne das er sodann trotz Beachtung der gebotenen Sorgfalt weder durch Abbremsen noch durch Ausweichen den Unfall habe verhindern können. Keinesfalls habe er jedoch dadurch die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Der Höhe nach seien auch die geltend gemachten Vorhaltekosten erstattungsfähig, da der Kläger als Inhaber eines Speditionsunternehmens eine Vielzahl von Fahrzeugen besitze, und die Anzahl der verfügbaren Fahrzeuge unter wirtschaftlicher Betrachtung so bemessen habe, dass zur Aufrechterhaltung des Betriebes stets ein Fahrzeug auch kurzfristig zur Verfügung steht. Die geltend gemachten Kosten für die Einsicht in die Ermittlungsakte seien gleichfalls gerechtfertigt, da diese Einsicht zur Durchsetzung der Schadenersatzansprüche erforderlich gewesen sei, zumal die Beklagtenseite den von der Klägerseite geschilderten Unfallhergang unter Hinweis auf die Ermittlungsakte bestritten habe. Hinsichtlich des Verzinsungszeitraums sei schließlich auf die entsprechende gesetzliche Regelung hinzuweisen.

Nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 02.08.2012 die Klage zurücknahm, insoweit die Klage sich ursprünglich auch gegen Zweit- und Drittbeklagte richtete, beantragt er nunmehr noch

  1. Der Erstbeklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.156,39 EUR nebst Zinsen in Höhe von 4 % aus 6.800,58 EUR für die Zeit vom 17.12.2010 bis zum 09.05.2011 sowie weitere Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB aus 4.156,39 EUR seit dem 10.05.2011 zuzahlen.
  2. Der Erstbeklagte wird darüber hinaus verurteilt, an den Kläger 12,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

Insbesondere führen sie aus, dass der klägerische Zeuge Z[…] die vorfahrtberechtigte Dorfstraße mit dem klägerischen Mercedes Transporter mit einer unangepassten Geschwindigkeit befahren habe. Als nämlich der Erstbeklagte mit dem Radlader nach dem ursprünglichen Anhalten am Stop-Schild seine Fahrt über die Hauptstraße fortgesetzt und die Hauptstraßenmitte bereits überfahren habe, habe sich für den Erstbeklagten von links kommend der Zeuge Z[…] mit überhöhter Geschwindigkeit von wenigstens 60 km/h genähert, weshalb es dann zur Kollision mit dem Radlader gekommen sei. Ein weiterer Nutzungsausfall könne der Höhe nach nicht gefordert werden, da die Berechnung der Vorhaltekosten schon nicht nachvollzogen werden könne. Es sei auch zweifelhaft, inwiefern der Kläger überhaupt entsprechende Vorhaltekosten verlangen könne. Ein Anspruch auf Ersatz der Kosten für die Einsichtnahme in die Ermittlungsakte bestehe nicht. Die Drittbeklagte habe bereits zuvor Einsicht genommen und den Aktenauszug von dem Kläger nicht angefordert. Ein vermeintlicher Zinsanspruch für den Zeitraum zwischen 17.12.2010 und 09.05.2011 könne schließlich nicht nach vollzogen werden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Anhörung der Zeugen […] K[…] und […] Z[…]. Wegen der Einzelheiten hierzu wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 02.08.2012 verwiesen. Weitergehend wurde ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten eingeholt. Hier verweist das Gericht auf das auch den Parteien jeweils vorliegende Gutachten vom 14.06.2013.

Hinsichtlich des Parteivorbringens erfolgteine Bezugnahme auf die eingereichten Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 02.08.2012.

Entscheidungsgründe:

I.

Die noch gegenüber dem Erstbeklagten erhobene zulässige Klage musste in voller Höhe Erfolg haben, da der Beklagte zu 1. den ihn im Verfahren treffenden Anscheinsbeweis nicht erschüttern konnte.

1. Im Ausgang hatte der Erstbeklagte das Zeichen 206 („Halt! Vorfahrt gewähren!“- sog. Stop-Schild) zu beachten. D. h., der Kläger hatte gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVO Vorfahrt. Den Erstbeklagten traf hingegen in erster Linie die Verantwortung für die Vermeidung eines Zusammenstoßes im Kreuzungsbereich (vgl. Heß in Burmann/Heß/Jahnke /Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Auflage, § 8 StVO Rn 36). Insofern sei klarstellend angemerkt, dass der Gutachter hierzu festhielt, dass vor dem Anfahrbeginn des Radladers eine Erkennbarkeit des Transporters hinsichtlich dessen Annäherung bei Nutzung des Verkehrsspiegels (durch den Fahrer des Radladers) gegeben gewesen sei. Somit sei eine Vermeidbarkeit des Unfallereignisses für den Fahrer des Radladers bei Nutzung des Verkehrsspiegels gegeben gewesen.

Den Erstbeklagten oblag es dabei als Wartepflichtigen, den klägerischen Fahrer als Vorfahrtberechtigten weder zu gefährden noch wesentlich zu behindern (a. a. O. Rn 38). Zivilrechtlich hat derjenige den Anschein schuldhafter Vorfahrtsverletzung gegen sich, der eine Vorfahrtverletzung begeht, hier also der Erstbeklagte. Liegen keine Besonderheiten vor, haftet der Wartepflichtige allein. Die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Vorfahrtsberechtigten tritt grundsätzlich völlig zurück (a. a. O., Rn. 68 m. w. N.). Bei einer Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit kommt (zwar) auch für den Vorfahrtsberechtigten eine Mithaftung in Betracht. Dies setzt allerdings voraus, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung feststeht bzw. dass sie vom Wartepflichtigen bewiesen werden kann (a. a. O., Rn. 71).

2. Diesen Anscheinsbeweis konnte der Erstbeklagte im Verfahren nicht erschüttern. Insbesondere gelang es ihm nicht, zur vollen Überzeugung des Gerichtes eine Geschwindigkeitsüberschreitung zulasten des klägerischen Fahrers unter Beweis zu stellen.

a) Wenn hier der Zeuge K[…], welcher zum Unfallzeitpunkt Schnee auf seinem Grundstück, welches mit an den Kreuzungsbereich angrenzt, beräumte, der nach seiner Bekundung dem Unfallhergang zufällig verfolgt hat, ausführte, dass der Mercedes Transporter mit überhöhter Geschwindigkeit, also einer Geschwindigkeit, welche den winterlichen Straßenverhältnissen nicht entsprach, gekommen sei, ist insoweit festzuhalten, dass diese Erklärung es zunächst vollkommen offen lässt, welche Geschwindigkeit der Mercedes Transporter tatsächlich aus Sicht des Zeugen gefahren sein soll. Im Übrigen beruhte diese Erklärung augenscheinlich auf den damaligen subjektiven Eindruck des Zeugen, ohne das auch nur ansatzweise dieser Eindruck anderweitig objektivierbar ist. Allein dieser subjektive Eindruck eines Zeugen ist jedoch für das Gericht noch nicht geeignet, um hieraus die sichere Schlussfolgerung ableiten zu können, dass tatsächlich eine entsprechend überhöhte Geschwindigkeit (in welcher Höhe?) vorgelegen hat.

b) Zur Problematik der Geschwindigkeit seitens des klägerischen Mercedes Transporters führte der Gutachter (erneut überzeugend und in sich nachvollziehbar) aus, dass unter Beachtung der wesentlichen Angaben des Fahrers des Transporters im Rahmen einer Annäherungsbetrachtung aus technischer Sicht festzustellen sei, dass das Unfallereignis entsprechend eines derartigen Ablaufs stattgefunden haben könne. Die zur Verfügung stehenden Beurteilungsgrundlagen würden sich mit einem derartigen Ablauf in Einklang bringen lassen. Dies bedeute, dass der Transporter vor Kollision mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h gefahren sein könne. Der Nachweis, dass eine derartige Geschwindigkeit von 40 km/h vorgelegen hat, sei damit nicht verbunden. Eine Geschwindigkeit von mindestens 60 km/h bezüglich des Transporters sei im vorliegenden Verfahren nicht nachweisbar.

D. h., dem Gutachter war letztendlich aus technischer Sicht eine eindeutige Positionierung nicht möglich.

c) Die nunmehr verbleibenden Zweifel bzw. Unsicherheiten gehen zulasten des Erstbeklagten, welcher gegen den Anscheinsbeweis streitet. Somit ist festzuhalten, dass das Gericht bei seiner Entscheidung diesen Anscheinsbeweis zugrunde zu legen hat.

3. Der Erstbeklagte hat daher den klägerischen Unfallschaden in voller Höhe zu übernehmen.

a) Im Anschluss an die Überlegungen im Hinweis- und Beweisbeschluss vom 07.03.2012, dort unter Ziffer 1, ist nochmals festzuhalten, dass angesichts einer für den Radlader ausgewiesenen Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h nach § 8 Nr. 1 StVG nicht nur eine Anwendung von § 7 StVG ausscheidet, sondern vor allem auch eine Haftungsverteilung unter Zugrundelegung von § 17 StVG. Vielmehr hat eine Abwägung primär nach § 254 BGB zu erfolgen, evtl. i. V. m. § 9 StVG (a. a. O., § 8 StVG, Rn 6).

b) Im Rahmen dieser Abwägung ist auf die bisherigen Feststellungen zu verweisen, wonach der Erstbeklagten den ihn treffenden Anscheinsbeweis nicht beseitigen konnte. Für eine klägerseitige Mithaftung besteht keine Veranlassung, da, wie gleichfalls bereits ausgeführt, eine entsprechende Geschwindigkeitsüberschreitung nicht zur sicheren Überzeugung des Gerichtes seitens des hierfür beweispflichtigen Erstbeklagten nachgewiesen werden konnte.

4. Im Ergebnis musste die Klage, insoweit sie sich jetzt noch gegen den Erstbeklagten richtet, in voller Höhe erfolgt haben.

a) Vorhaltekosten sind im Hinblick auf die Erläuterungen des Klägers als grundsätzlich erstattungsfähig zu betrachten (vgl. SandenA/öltz, Kfz-Sachschadensrecht, 8. Auflage, Rn. 226 ff.), also gerade im gewerblichen Betrieb (a. a. O., Rn 231). Im Übrigen wäre wohl andernfalls ein entsprechender Nutzungsausfall zu leisten.

Der Zeitraum von 14 Tagen begegne schließlich keinen Bedenken, da die gutachterliche Schadenskalkulation bezüglich des klägerischen Mercedes Transporters mit Datum 21.12.2010 eine Wiederbeschaffungsdauer von 14 Kalendertagen wiedergibt (vgl. Blatt 14 RS d.A).

b) Die Kosten für die Einsicht in die Ermittlungsakte sind gleichfalls als erstattungsfähig zu betrachten. Insofern musste es auch dem Kläger freistehen, diese Einsicht in die Originalakte eigenständig vorzunehmen, also unabhängig davon, ob die Drittbeklagte ihn hierzuauffordert oder gleichfalls (vorab) eine entsprechende Einsicht vorgenommen hat.

5. Nachdem dem klägerischen Rechenwerk der Höhe nach nicht entgegengetreten worden war, war der Erstbeklagte gemäß § 249 Abs. 1 BGB in der Hauptsache in Höhe des noch geltend gemachten Differenzbetrages von EUR 4.156,39 zu verpflichten.

Eine Verzinsung ab dem Schadensereignis kann der Kläger nach § 849 BGB verlangen (vgl. hierzu auch: Palandt-Sprau, 71. Auflage, § 849, Rn 1 u. 2.). Im Übrigen sind weitergehende Zinsen gemäß §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB zu leisten.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO.

Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit erging gemäß §§ 709, 708 Nr. 11, 711 ZPO.“

AG Pirna, Urteil vom 14.11.2013 – 13 C 848/11

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