Nach dem Beschluss des Landgerichts Görlitz vom 17.8.2021 (LG Görlitz, Beschluss vom 17.8.2021 – 3 Qs 148/21) liegt ein Ausnahmefall vom Regelfahrverbot vor, wenn ein Fahrzeug unter dem Einfluss von Alkohol nur wenige Meter im öffentlichen Verkehrsraum geführt wird.
Aus den Entscheidungsgründen:
„BESCHLUSS
In dem Strafverfahren gegen
[…]
Verteidiger:
Rechtsanwalt Stephan M. Höhne, Wallstraße 15, 02625 Bautzen
wegen Trunkenheit im Verkehr
ergeht am 17.08.2021
durch das Landgericht Görlitz – Strafkammer als Beschwerdekammer –
nachfolgende Entscheidung:
1.
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bautzen vom 13. 7.2021 wird als unbegründet verworfen
2.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt
Gründe:
I.
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Bautzen vom 30. 6. 2021 wurde dem Angeklagten wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 60,- € auferlegt. Unter Entziehung der Fahrerlaubnis und Einziehung des Führerscheins wurde die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von 11 Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.
Die Zustellung dieses Strafbefehls an den Angeklagten erfolgte am 9. 7. 2021. Der Angeklagte legte noch am selben Tag hiergegen Einspruch ein.
Der Angeklagte erklärte sich am 13. 5. 2021 gegenüber der Polizei mit der Sicherstellung seines Führerscheins einverstanden. Mit Schriftsatz vom 22. 6. 2021, beim Amtsgericht Bautzen eingegangen am 5. 7. 2021, widersprach er über seinen Verteidiger der weiteren Sicherstellung seines Führerscheins.
Mit Beschluss vom 13. 7. 2021 ordnete das Amtsgericht Bautzen die Herausgabe des Führerscheins an den Angeklagten an. Die Rückgabe des Führerscheins an den Angeklagten erfolgte am 14. 7. 2021.
Die Staatsanwaltschaft legte am 15. 7. 2021 beim Amtsgericht Bautzen eine als sofortige Beschwerde bezeichnete Beschwerde gegen den Beschluss vom 13. 7. 2021 ein.
Das Amtsgericht Bautzen hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
1.
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässig. § 305 StPO steht dem nicht entgegen, denn gemäß § 305 S. 2 StPO unterliegen Entscheidungen über die vorläufige Entziehung einer Fahrerlaubnis nicht dem Ausschluss der Beschwerde gegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte.
Polizei und Staatsanwaltschaft dürfen gemäß § 94 Abs. 1 und Abs. 3 StPO einen Führerschein sicherstellen bzw. beschlagnahmen. Auf den Antrag des von der Sicherstellung Betroffenen nach § 98 Abs. 2 S. 1 StPO entscheidet das Gericht nicht über die Zulässigkeit der Beschlagnahme nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO, sondern ordnet gemäß § 111 a Abs. 4 StPO die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis an oder lehnt sie ab.
2.
Das Gericht kann einem Angeklagten gemäß § 111 a StPO die Fahrerlaubnis vorläufig entziehen, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass ein Fahrerlaubnisentzug gemäß § 69 StGB angeordnet wird. Das erfordert einen dringenden Tatverdacht dahingehend, dass der Angeklagte für ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erachtet wird. Bei der Norm des § 111 a StPO handelt es sich um eine Ermessensentscheidung.
Im vorliegenden Verfahren besteht kein dringender Tatverdacht dahingehend, dass der Angeklagte als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erachtet wird.
a)
Allerdings ist der Angeklagte dringend verdächtig, ein Kraftfahrzeug trotz alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit im öffentlichen Straßenverkehr geführt zu haben, § 316 StGB.
Ausweislich der Fotos […] handelt es sich bei dem betreffenden Bereich um die von der öffentlichen Straße einsehbare Zufahrt zu gleich mehreren Hausgrundstücken. Die Hausgrundstücke W[…] Straße […] sind über diese Zufahrt erreichbar. Diese örtlichen Gegebenheiten belegen, dass dieser Bereich nicht nur vom Angeklagten und dessen Familie sowie Besuchern zu Parkzwecken benutzt wird, sondern auch von den weiteren Anwohnern der Hausgrundstücke und deren Gästen. Dieser Zufahrtsbereich steht also zumindest einer allgemein bestimmten Personengruppe zu Verkehrszwecken zur Verfügung. In einem solchen Fall ist öffentlicher Verkehrsraum gegeben ( BGH, NZV 1998, 418, zitiert nach juris, dort Rz. 2 ).
Ausweislich des Befundberichts der TU Dresden, Institut für Rechtsmedizin, vom 19. 5. 2021 belief sich die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten für den Zeitraum der Blutentnahme im Analysenmittelwert auf 1,91 Promille.
b)
Zwar ist der Täter gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB in der Regel als ungeeignet zum Führen von
Kraftfahrzeugen anzusehen, wenn die rechtswidrige Tat ein Vergehen der Trunkenheit im Verkehr ist. Der Regelfall ergibt sich aber nicht automatisch aus der Verwirklichung des Tatbestands des § 316 StGB. Eine Indizwirkung für die Ungeeignetheit eines Kraftfahrers liegt bei Verwirklichung des § 316 StGB nur insoweit vor, als dieser nach seiner Persönlichkeit dem Durchschnitt der Kraftfahrer entspricht und die Tat gegenüber der Masse der vorkommenden entsprechenden Taten keine wesentlichen Besonderheiten aufweist. Liegen hingegen Besonderheiten in der Person des Täters, der Tat oder in der Nachtatsituation vor, die einen so wesentlichen Unterschied von dem Durchschnittsfall kennzeichnen, dass sie eine Ausnahme von der Regel rechtfertigen können, ist von der Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen (OLG Düsseldorf, VRS 74, 259, zitiert nach juris, dort Rz. 9 ). Ein solcher Ausnahmefall, der die Anordnung der Maßregel entbehrlich machen kann, kann dann vorliegen, wenn der Täter sein Fahrzeug nur ein kurzes Stück bewegt, um einen verkehrsstörenden Zustand zu beseitigen (OLG Hamburg, VRS 8, 290; OLG Braunschweig, NdsRPfl 1969, 214; OLG Düsseldorf, a. a. O., bei juris Rz. 15 ). Es müssen Umstände vorliegen, die sich von den Tatumständen des Durchschnittsfalls deutlich abheben ( OLG Stuttgart, NStZ-RR 1997, 178; zitiert nach juris, dort Rz. 32 ).
Ein derartiger Ausnahmefall ist trotz der hohen Alkoholisierung des Angeklagten nach der Rechtsauffassung der Kammer gegeben. Der Angeklagte wollte mit seinem PKW nur vom Anwesen W[…] Straße […] zum Hausgrundstück W[…] Straße […] fahren (vgl. Skizze […]) bzw. nach dem Zusammenstoß mit dem Taxi sein Auto ein Stück weit zurücksetzen. Er legte dabei nur wenige Meter im öffentlichen Verkehrsraum zurück. Diese Fahrt ereignete sich darüber hinaus in einem Verkehrsbereich, der nur von den drei Anliegern und Besuchern
der dort befindlichen Wohngrundstücke genutzt wird. Hinzu kommt noch, dass sich die Tat mitten in der Nacht ereignete und zu diesem Zeitpunkt mit noch geringerem Verkehr als tagsüber zu rechnen war. Bei dieser Sachlage ist wohl von der Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen. Jedenfalls besteht kein dringender Tatverdacht dahingehend, dass der Angeklagte als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erachtet wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 2 StPO.“
LG Görlitz, Beschluss vom 17.8.2021 – 3 Qs 148/21
Beschwerdeverfahren zu AG Bautzen, Beschluss vom 13.7.2021 – 46 Cs 620 Js 13055/21