Der Anscheinsbeweis ist ein wichtiger Aspekt des deutschen Zivilprozessrechts, der oft in Verkehrsunfallverfahren zur Anwendung kommt. Der Anscheinsbeweis ist ein Beweismittel, das zur Überzeugung des Gerichts über das Vorliegen einer bestimmten Tatsache herangezogen werden kann, wenn bestimmte Beweisanzeichen vorliegen. Diese Beweisanzeichen werden als typische Geschehensabläufe oder Erfahrungssätze bezeichnet.
Der Anscheinsbeweis basiert auf der Annahme, dass bestimmte Ereignisse typischerweise auf eine bestimmte Weise ablaufen. Wenn also ein typischer Geschehensablauf vorliegt, kann das Gericht den Schluss ziehen, dass die zugrunde liegende Tatsache tatsächlich eingetreten ist, es sei denn, es gibt Beweise, die diesen Schluss widerlegen.
In Verkehrsunfallverfahren kommt der Anscheinsbeweis oft zur Anwendung. Einige typische Situationen, in denen ein Anscheinsbeweis verwendet werden kann, sind:
- Auffahrunfall: Es gilt der Anscheinsbeweis, dass der Auffahrende den Unfall verursacht hat, weil er entweder zu schnell gefahren ist oder nicht genügend Abstand gehalten hat. Im Allgemeinen geht die Rechtsprechung davon aus, dass der auffahrende Fahrer für den Unfall verantwortlich ist, da er offensichtlich nicht genügend Abstand gehalten oder nicht aufmerksam genug gefahren ist (Vgl. AG Kamenz, Beschluss vom 26.3.2014 – 1 C 717/13 (bei einem Auffahrunfall in einem Kreisverkehr)). Soweit jedoch individuelle Umstände beim Unfallereignis vorliegen, die gegen die Typizität des Unfallablaufs sprechen, wie z.B. ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs, ist der Anscheinsbeweis nicht anwendbar (Vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – VI ZR 177/10).
- Unfall beim Ausfahren aus Parklücke: Es gilt der Anscheinsbeweis, dass der Fahrer, der aus einer Parklücke in den fließenden Verkehr ausfährt, den Unfall verursacht hat, weil er die Vorfahrtsregeln nicht beachtet hat. Gegen die Typizität des entsprechenden Unfallablaufs spricht, wenn zwei Fahrzeuge auf einem Parkplatz gleichzeitig rückwärts ausparken und kollidieren.
- Unfall beim Ausfahren aus einem Grundstück: Wenn ein Fahrzeug, das aus einer Grundstückseinfahrt herauskommt, mit einem anderen Fahrzeug im fließenden Verkehr zusammenstößt, spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass der Fahrer des Fahrzeugs, das aus der Einfahrt herauskommt, nicht die gebotene äußerste Vorsicht gemäß § 10 Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) eingehalten hat (Vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 14.8.2006 – I-1 U 224/05).
- Unfall beim An- bzw. Einfahren vom Parkstreifen: Kommt es in einem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Anfahren von einem Parkstreifen in den fließenden Verkehr zu einer Kollision mit einem dort fahrenden Fahrzeug, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Kollision darauf beruht, dass der vom Parkstreifen einfahrende Fahrer die von § 10 StVO verlangte äußerste Sorgfalt nicht beachtet hat. Kann der Anscheinsbeweis nicht erschüttert oder gar widerlegt werden, wiegt der Verstoß gegen die besondere Sorgfaltspflicht beim An- bzw. Einfahren vom Parkstreifen so schwer, dass die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des fließenden Verkehrs dahinter vollständig zurücktritt (LG Görlitz, Urteil vom 7.3.2022 – 5 O 258/20; LG Hamburg, Urteil vom 9.3.2018 – 319 O 91/17).
- Unfall beim Wechsel der Fahrspur: Es gilt der Anscheinsbeweis, dass der Fahrer, der die Fahrspur wechselt, den Unfall verursacht hat, weil er nicht darauf geachtet hat, ob er die Fahrspur sicher wechseln kann. Nach § 7 Abs. 5 StVO verlangt jeder Fahrstreifenwechsel die Einhaltung äußerster Sorgfalt, so dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist (höchste Sorgfaltsstufe): er setzt ausreichende Rückschau voraus und ist rechtzeitig und deutlich durch Fahrtrichtungsanzeiger anzukündigen. Ereignet sich die Kollision zweier Fahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass dieser den Unfall unter Verstoß gegen die vorgenannten Pflichten verursacht und verschuldet hat. In der Regel haftet der Vorausfahrende bei einem sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel für die Unfallschäden allein (KG Berlin, Urteil vom 2.10.2003 – 12 U 53/02; KG Berlin, Beschluss vom 3.7.2008- 12 U 239/07; AG Bautzen, Urteil vom 19.5.2023 – 21 C 60/22).
- Unfall beim Überholen: Bei einem Überholmanöver wird nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Anscheinsbeweis nicht automatisch gegen den überholenden Fahrer angewendet. Ein Anscheinsbeweis bei einem Verkehrsunfall mit einem Überholenden liegt nur vor, wenn spezifische Umstände vorhanden sind, die auf ein Fehlverhalten des überholenden Fahrers hinweisen. Ein Beispiel dafür ist eine Fahrbahnverengung durch entgegenkommenden Verkehr, die der Überholende hätte beachten müssen (Vgl. AG Bautzen, Urteil vom 19.5.2023 – 21 C 60/22).
- Unfall bei Vorfahrtsverletzung: Nach der Rechtsprechung gilt der Anscheinsbeweis zugunsten des Vorfahrtsberechtigten, wenn der Wartepflichtige gegen seine Verkehrspflichten gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 der Straßenverkehrsordnung (StVO) verstoßen hat, solange er sich noch nicht ohne Behinderung des bevorrechtigten Verkehrs eingeordnet hatte (OLG Dresden, Beschluss vom 9.6.2021 – 4 U 396/21; AG Bautzen, Urteil vom 2.11.2022 – 22 C 141/22; AG Pirna, Urteil vom 14.11.2013 – 13 C 848/11 (bei Missachtung eines Stopp-Schildes).
- Unfall bei Rückwärtsfahrt: Ein allgemeiner Erfahrungssatz besagt, dass der Rückwärtsfahrende seiner Sorgfaltspflicht gemäß § 1 StVO in Verbindung mit der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch verursacht hat, wenn die Kollision beim Rückwärtsfahren entstand (Vgl. BGH, Urteil vom 11.10.2016 – VI ZR 66/16). § 9 Abs. 5 StVO ist auf Parkplätzen mittelbar über § 1 Abs. 2 StVO zu berücksichtigen ist (BGH, Urteil vom 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15). Allgemein spricht der Anscheinsbeweis gegen den Rückwärtsfahrenden dahingehend, dass er allein einen im Zusammenhang mit der Rückwärtsbewegung zustande gekommenen Unfall verschuldet hat.
- Unfall eines Linksabbiegers mit einem entgegenkommenden Fahrzeug: Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung spricht der Anscheinsbeweis gegen einen Linksabbieger, wenn es zu einem Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kommt. Dieser Anscheinsbeweis stützt sich auf die Annahme, dass der Linksabbieger seine besondere Sorgfaltspflicht nach § 9 Abs. 3 StVO verletzt hat, indem er nicht ausreichend auf den entgegenkommenden Verkehr geachtet hat (Vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2007 – VI ZR 58/06; BGH, Senatsurteil vom 11. Januar 2005 – VI ZR 352/03).
Der Anscheinsbeweis ist kein unwiderlegbarer Beweis. Der Betroffene hat immer die Möglichkeit, den Anscheinsbeweis durch den Nachweis eines atypischen Geschehensablaufs zu entkräften. Ein atypischer Geschehensablauf liegt vor, wenn der Betroffene nachweisen kann, dass das Ereignis aufgrund von Umständen eingetreten ist, die normalerweise nicht oder nur selten auftreten.
Ich wollte links in eine Straße einbiegen und trotz einordnens, Rückschau und Blinklicht versuchte mich ein hochmotorisierter Motorroller zu überholen. Dieses geschah genau vor einer uneinsehbaren Linkskurve. Trotzdem wurde ich mit einer 50% Schuld belegt weil ich den § 9 StVO verletzt haben soll.
In dem von Ihnen geschilderten Fall ist die Schuldverteilung aufgrund eines Verstoßes gegen den § 9 der Straßenverkehrsordnung (StVO) erfolgt, der sich mit dem Abbiegen und den entsprechenden Pflichten befasst. Gemäß § 9 Abs. 1 StVO hat sich der Fahrzeugführer beim Abbiegen in besonderem Maße so zu verhalten, dass er die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließt. Dazu gehört das frühzeitige Anzeigen des Abbiegevorgangs durch den Blinker, die Rückschau sowie das Einordnen auf der Fahrbahn. Ein weiteres wichtiges Element ist das Beachten des nachfolgenden Verkehrs.
In Ihrem Fall war jedoch der andere Verkehrsteilnehmer – der Motorroller – offenbar im Überholvorgang involviert, und dies unmittelbar vor einer uneinsehbaren Linkskurve. Dies wirft die Frage auf, ob der Überholvorgang des Motorrollers in einer unklaren Verkehrslage erfolgte. Hier greift § 5 Abs. 3 StVO, der klarstellt, dass Überholen nur bei eindeutiger Verkehrslage gestattet ist. Eine unklare Verkehrslage liegt beispielsweise vor, wenn aufgrund von Sichtbehinderungen, Kurven oder anderen Hindernissen nicht sicher abzuschätzen ist, ob ein Überholvorgang gefahrlos durchgeführt werden kann. Die Tatsache, dass der Überholvorgang vor einer uneinsehbaren Kurve stattfand, lässt darauf schließen, dass die Verkehrslage unklar war und der Motorrollerfahrer somit möglicherweise gegen § 5 Abs. 3 StVO verstoßen hat.
Die Tatsache, dass Ihnen eine 50%ige Schuld angelastet wurde, beruht möglicherweise auf der Einschätzung, dass Sie Ihrer besonderen Sorgfaltspflicht beim Abbiegen nicht in vollem Umfang nachgekommen sind. Auch wenn der andere Verkehrsteilnehmer rechtswidrig überholt hat, kann es dennoch sein, dass Ihr Verhalten als mitverantwortlich angesehen wurde, da Sie eventuell den nachfolgenden Verkehr nicht ausreichend beachtet haben.
In dieser Situation empfehle ich Ihnen dringend, einen spezialisierten Rechtsanwalt für Verkehrsrecht zu konsultieren. Ein Anwalt kann Akteneinsicht beantragen und den genauen Sachverhalt analysieren. Dabei kann er auch prüfen, ob die 50%ige Schuldverteilung angemessen ist oder ob der Motorrollerfahrer aufgrund des gefährlichen Überholmanövers möglicherweise die überwiegende Verantwortung trägt. Eine genaue rechtliche Bewertung kann nur nach einer umfassenden Prüfung des Sachverhalts erfolgen, insbesondere im Hinblick auf die Erfolgsaussichten einer möglichen Klage auf Schadensersatz. Der Anwalt wird auch in der Lage sein, eventuelle Beweismittel wie Gutachten oder Zeugenaussagen für Ihre Verteidigung zu sichten und gegebenenfalls eine Anpassung der Schuldverteilung zu erreichen.
Ein juristisches Vorgehen gegen die getroffene Entscheidung könnte Erfolg haben, wenn nachgewiesen werden kann, dass das Überholen des Motorrollers in der unklaren Verkehrslage den wesentlichen Unfallgrund darstellt. Eine anwaltliche Beratung ist daher in jedem Fall ratsam, um Ihre Rechte vollumfänglich zu wahren.
Danke schön für die ausführliche Rückmeldung. Aus dem Gegenverkehr kam uns aus 30 Meter Entfernung ein Fahrzeug entgegen, die Fahrerin konnte mir bestätigen, dass mein linkes Blinklicht eingeschaltet war. Leider haben ihr die Polizeibeamten aber die Aussage am Unfallort verweigert, weil nach der Aussage des Motorroller-Fahrers für sie der Fall geklärt war. Der Motorrollerfahrer bekam ein Bußgeld von 35 Euro auferlegt. Am Unfalltag wurde mir von den Polizeibeamten keine Verletzung des § 9 Abs. 1 StVO vorgeworfen, erst von der gegnerischen Haftpflichtversicherung. Werde hier berichten wie der geendet ist. MfG Frank Lonnemann
Wir sind jetzt guter Hoffnung, das es mit einem Rechtsanwalt