Nach dem Urteil des Landgerichts Görlitz mit Außenkammern Bautzen (LG Görlitz, Urteil vom 14.3.2023 – 5 O 380/20) wurde entschieden, dass die Beklagte für 2/3 der unfallbedingten Schäden haftet. Der Fall betraf zwei Fahrzeuge, bei denen sich jeweils die Betriebsgefahr verwirklicht hatte. Allerdings wurde die Betriebsgefahr des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs als höher eingestuft. Der Kläger hatte im Ergebnis der Beweisaufnahme gegen Verkehrsregeln verstoßen, indem er trotz einer durchgezogenen Linie überholte. Im Gegensatz dazu hatte der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs die strengen Anforderungen beim Einfahren und Anfahren gemäß § 10 StVO nicht eingehalten.
Aus den Entscheidungsgründen:
„IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In dem Rechtsstreit
[…]
– Kläger –
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Frings & Höhne, Obergraben 7/9, 01097 Dresden, Gz.: […]
gegen
[…] Versicherung[…]
– Beklagter –
Prozessbevollmächtigte:
[…]
wegen Schadensersatz
hat die 5. Zivilkammer des Landgerichts Görlitz […]
im schriftlichen Verfahren aufgrund der bis zum 08.03.2023 eingereichten Schriftsätze
für Recht erkannt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 212,50 € zu zahlen nebst Jahreszinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz des BGB ab dem 27.08.2020 sowie aus einem Betrag von 425,00 € für den Zeitraum vom 11.07.2020 bis 26.08.2020.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 400,00 € zu zahlen nebst Jahreszinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz des BGB seit dem 12.09.2020.
3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger gegenüber dem Autohaus […] von Forderungen aus der Rechnung […] für Reparatur und Mietwagenkosten i.H.v. 318,85 € freizustellen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an die […]versicherung […] einen Betrag i.H.v. 1.267,51 € zu zahlen […].
5. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger gegenüber dem Ingenieur- und Sachverständigenbüro […], von Forderungen i.H.v. 549,19 € aus der Rechnung […] freizustellen.
6. Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 1/3 und die Beklagte zu 2/3 zu tragen.
7. Das Urteil ist für die Beklagten vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Geldbetrages.
Streitwert: 14.105,68 € bis 31.08.2020, danach bis 8.000,00 €.
Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch nach einem Verkehrsunfall.
Am 05.06.2020 gegen 15:45 Uhr befuhr der Kläger mit seinem Pkw Skoda die […] Straße. Vor der nächsten Kreuzung bildet sich verkehrsbedingt ein Stau. Der Kläger entschied sich, an dem stehenden Fahrzeugen links vorbei zu fahren, um sich an der Kreuzung in der Linksabbiegerspur einordnen zu können.
Der voraus befindliche im Stau stehende Verkehr ließ i.H.d. Ausfahrt vom rechts befindlichen […]markt eine Lücke. Der Fahrer des bei der Beklagten haftpflichtversichernden Pkw Nissan nutzte diese Lücke, um aus dieser Ausfahrt herauszufahren mit dem Ziel, nach links auf die […] Straße aufzufahren.
In Höhe der Ausfahrt des […]marktes kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge.
In Fahrtrichtung des Klägers gesehen, befand sich in dem Bereich vor der Ausfahrt vom […]markt eine Fahrstreifenbegrenzung (Zeichen 295 StVO).
In Folge des Unfalls entstanden dem Kläger Gutachterkosten i.H.v. 1.098,37 € brutto sowie Mietwagenkosten i.H.v. 835,20 €. Die Werkstatt rechnete ihm gegenüber Reparaturkosten am Pkw i.H.v. 10.983,19 € brutto ab. Am Fahrzeug verbleibt ein Minderwert von 400,00 €. Mit Abrechnungsschreiben vom 26.08.2020 regulierte die Beklagte insgesamt materielle Schäden i.H.v. 7.096,88 € […].
Der Kaskoversicherer des Klägers zahlte auf die Reparaturkosten den Betrag von 5.759,20 €.
Der Kläger trägt vor, der Unfall sei für ihn unvermeidbar gewesen. Er habe eine Ausgangsgeschwindigkeit von maximal 15 km/h gehabt.
Die vorbenannte Teilregulierung durch die Beklagte erfolgte nach Klageerhebung mit Klageschrift vom 20.08.2020, jedoch vor Rechtshängigkeit der Klage (Zustellung am 12.09.2020).
Mit Schriftsatz vom 31.08.2020 erklärte der Kläger seine Teilklagerücknahme […].
Der Kläger beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt,
a. an den Kläger 425 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB hieraus€ seit dem 11.7.2020 zu zahlen.
b. an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäߧ 247 BGB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
c. den Kläger gegenüber dem Autohaus […] von Forderungen aus der Rechnung […] für Reparatur- und Mietwagenkosten in Höhe von 11.818,39 € freizustellen.
d. den Kläger gegenüber dem Sachverständigenbüro […] von Forderungen in Höhe von 1098,37 € aus der Rechnung […] freizustellen.
e. den Kläger gegenüber der Rechtsanwälte Frings & Höhne, Obergraben 7 /9, 01097 Dresden von der Forderung Für die Erstattung der Akteneinsichtspauschale in Höhe von 13,92 € (brutto) freizustellen.
f. den Kläger gegenüber der Rechtsanwälte Frings & Höhne, Obergraben 7 /9, 01097 Dresden von der Forderung der nicht anrechenbaren außergerichtlichen Kosten in Höhe von 536,50 € freizustellen.
Die Beklagte beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt vor, der Kläger sei mit seinem Fahrzeug an den stehenden Fahrzeugen bis zur Unfallstelle vorbeigefahren, wobei er die durchgezogene Fahrstreifenbegrenzung überquert habe. Der Fahrer des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs habe sich aus der Ausfahrt heraus durch die belassene Mitte heraus getastet. Das unfallgegnerische Fahrzeug sei so dicht an den stehenden Fahrzeugen vorbeigefahren oder so schnell, dass der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges den Unfall nicht habe vermeiden können.
Aus der gegebenen Unfallsituation erwachse eine Haftungsquote von maximal 50 %.
Nach Prüfung der Reparaturkostenrechnung bestreitet die Beklagte die Notwendigkeit von Reparaturkosten i.H.v. insgesamt 443,71 € […].
Ferner bestreitet die Beklagte eine unfallbedingte Verletzung des Klägers mithin das Vorliegen eines HWS-Traumas. Ein solches Trauma habe angesichts der geringen Intensität des Unfalls nicht eintreten können.
Es wurde Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen unfallanalytischen Gutachtens. Die Verkehrsunfallakte wurde beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen und auf das schriftliche Gutachten verwiesen.
Die Parteien sind sich mittlerweile darüber einig, dass der Kläger einen Anspruch auf Schmerzensgeld i.H.v. 400 € hat.
Entscheidungsgründe:
I.
Aufgrund des Verkehrsunfalls vom 05.06.2020 hat der Kläger Anspruch auf Schadensersatz, wie tenoriert (§ 7 StVG, § 115 VVG).
Die Beklagte haftet für die unfallbedingten Schäden mit einer Haftungsquote von 2/3 zu ihren Lasten. Bei diesem Unfall hat sich die Betriebsgefahr beider unfallbeteiligter Pkw verwirklicht. Die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeuges tritt nicht zurück hinter diejenige des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges.
Die Betriebsgefahr des klägerischen Pkw Skoda war dadurch erhöht, weil er unter Missachtung der durchgezogenen weißen Linie, die der Fahrstreifenbegrenzung dient (Zeichen 295) die im voraus befindlichen Fahrzeugstau überholte. Die Betriebsgefahr des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges war erhöht, weil der Fahrer dieses Fahrzeuges die strengen Anforderungen beim Einfahren und Anfahren (§ 10 StVO) nicht beachtet hat.
Der Verkehrsverstoß des Klägers lässt sich im Ergebnis der Beweisaufnahme feststellen aufgrund der Ermittlungen und Einschätzungen des Sachverständigen […], die im Einklang stehen mit den Feststellungen der Polizei vor Ort, wie es sich aus der beigezogenen Unfallakte ergibt.
Mit dem schriftlichen unfallanalytischen Gutachten lässt sich außerdem feststellen, dass der Unfall für beide Fahrzeugführer nur dann vermeidbar war, wenn sie auf ihr jeweils eigenes Fahrmanöver verzichtet hätten. Das heißt, wenn der Kläger auf das Überholen oder der Beklagte auf das Auffahren auf die Bundesstraße mit der Absicht nach links abzubiegen verzichtet hätte.
Der Verkehrspflichtenverstoß des Fahrzeugführers des Beklagtenfahrzeugs wiegt deutlich schwerer als derjenige Pflichtenverstoß des Klägers, so dass auch die Betriebsgefahr des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges als höher zu bewerten ist.
Wer aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, hat sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss man sich einweisen lassen (§ 10 StVO). Damit sind die strengsten Verhaltensanforderungen aufgestellt. Diese hat der Führer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges letztlich gerade nicht erfüllt.
Der Kläger hat insgesamt materielle Schäden erlitten i.H.v. 13.341,76 € (Reparaturkosten 10.983,19 €, Wertminderung 400,00 €, Gutachterkosten 1.098,37 €, Mietwagenkosten 835,20 €, Pauschale 25,00 €). Hinzu kommen Nebenkosten (Akteneinsichtskosten von 13,92 € und Rechtsanwaltskosten von 536,50 €).
Der Unterzeichner schätzt die Reparaturkosten entsprechend der Reparaturkostenrechnung auf 10.983,19 € (§ 287 Abs. 1 ZPO). Weitere Beweisaufnahme etwa durch Einholung von Gutachten ist mit Blick auf den insoweit streitigen Betrag von 443,71 € sowohl prozessual als auch finanziell unverhältnismäßig. Hinzu kommt, dass eine Werkstatt eine eigenständige Kostenkalkulation vornehmen darf und jedenfalls gegenüber Dritten nicht an Vorgaben von Fahrzeugherstellern gebunden ist. Ferner kommt hinzu, dass ein Geschädigter vor der Beauftragung einer Reparatur keine Marktforschung betreiben muss, um festzustellen, ob bei einer anderen Werkstatt als der, die er ausgewählt hat, die Reparatur um ein paar wenige Hundert Euro günstiger ausfällt, wenn der Schaden ungefähr 10.000,00 € beträgt.
Von dem materiellen Schaden hat die Beklagte die Nebenkosten bereits ausdrücklich reguliert. Dementsprechend hat der Kläger seine diesbezügliche Klage bereits zurückgenommen.
Von den 13.341,76 € Hauptforderung hat die Beklagte 2/3 zu ersetzen, mithin einen Betrag von 8,894,51 €. Von diesem Betrag erstattete die Beklagte bereits 6.546,46 € (7.096,88 € abzüglich 13,92 € abzüglich 536,50 €).
Damit verbleibt eine Restforderung von 2.348,05 €. Aus diesem Betrag sind zunächst die verbliebenen Forderungen des Klägers zu befriedigen (Quotenvorrecht; Klageanträge 1 a., c., e.: 212,50 €; 318,85 €; 549,19 €). Es verbleibt ein Anspruchsrest von 1.267,51 €. Das ist der Betrag, den die Beklagte an den Kaskoversicherer des Klägers zu zahlen hat.
Wegen der unfallbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen steht dem Kläger auch ein Schmerzensgeld i.H.v. 400 € zu. Über diesen Anspruch haben sich die Parteien zuletzt verständigt.
II.
Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92, 709 ZPO, § 48 Abs. 1 GKG i.V.m. §§ 3 ff. ZPO.“
(LG Görlitz, Urteil vom 14.3.2023 – 5 O 380/20)